MAKEDONIEN, DER BALKAN UND EUROPA ALS „ZEIT-RAUM-SPIEL“
Dr.
I.
Seit einer Reihe von Jahren herrscht in Abhandlungen und Diskussionen über die geistige Entwicklung Europas die Ansicht vor, dass unser Zeitalter von einer großen Unsicherheit geprägt ist – genauer gesagt: Es geht um das Verhältnis von Raum und Zeit und ihrer beider Einfluss auf die Geschichte der Gesellschaft und die Biografie des Individuums.
Michel Foucault
fasste diese Phänomen in folgende Worte: „Der Raum, in dem wir leben, durch den
wir aus uns herausgezogen werden, in dem sich die Erosion unseres Lebens,
unserer Zeit und unserer Geschichte abspielt, dieser Raum, der uns zernagt und
auswäscht, ist selber auch ein heterogener Raum.“ Damit wird klar, dass das
Subjekt nur innerhalb eines geografischen Kontextes und in Beziehung zu Zeit
und Geschichte existiert. Darüber hinaus muss, wenn man dem Subjekt gerecht
werden will, auch der historische Gesamtrahmen, in dem es lebt,
berücksichtigt werden. Diesem historischen Ansatz kommt also, unbeschadet der
„Totalität aller Ideologien“, eine entscheidende Rolle zu.
Wenn man sich mit
den Arbeiten des makedonischen Schriftstellers Slavko Janevski vertraut
macht, identifiziert man rasch seinen mythischen Topos „Kukulino“ als eine
dieser Erfahrungen. Dieser fiktionale Begriff bezieht sich auf einen
tatsächlichen geografischen Ort (die Hänge des Berges Skopska Crna Gora),
verdichtet jedoch zugleich den historischen, geografischen und biografischen
Rahmen des chaotischen Kosmos Makedoniens und wird somit zu einer Art Weltachse
von Schicksalen. Die Trilogie Die Wunder der Schrecklichkeit (1987) beschreibt
dieses „Zeit-Raum-Spiel“ des Kukulino folgendermaßen: „Die ganze weite Welt ist
ein gigantischer Kukulino, genau wie Kukulino eine winzige Welt, lustig und
tragisch, verdreht und grotesk … apathisch und fromm, lebhaft und kleinlaut …
manchmal auch überschwänglich in der Täuschung und in geheimem Einverständnis
mit Heiligen; zu anderen Zeiten betrogen durch Heilige und ebenso vom
Bewusstsein im Stich gelassen.“ Obwohl der Roman gewisse historische Ereignisse
(wie beispielsweise die Rattenplage, die die Pest quer über Europa verbreitet,
die Eroberung Skopjes 1392 durch die Osmanen oder die Ausbreitung der
osmanischen Herrschaft auf dem Balkan) detailliert beschreibt, durchzieht das
fiktionale Wort den Rahmen der Darstellung und schafft damit eine durch und
durch trügerische, fast schon gespenstische Atmosphäre. All das hält uns jedoch
nicht davon ab, in jeder politischen und kulturellen Anspielung des
Kukulino-Topochrons die geistige Landkarte des historischen Schicksals
wiederzuerkennen, die den Balkan geprägt hat. Dabei handelt es sich um einen
Raum von epischer Dichte, in den das Schicksal des makedonischen Volkes
eingeschrieben ist, einen Raum gedehnter historischer Zeit. Darin ist das
Individuum ein sterbliches Wesen, das mit einem Gespür für Schmerz ausgestattet
ist und das – um mit den Worten von Martin Heidegger zu sprechen – sieht, dass
alles eine Bedeutung hat und Großartiges entsteht durch den Menschen, dessen
Heimaterde, Vaterland und legendenhafte Wurzeln.
Sicherlich wäre es
ziemlich naiv, in dieser Sichtweise eine einzelne, geschlossene Perspektive zu
erkennen – eine Perspektive, die den Menschen in lokale Rahmen einschließt und
Schnittpunkte mit und Einflüsse von den Rändern einer weiter gefassteren
geografischen und historischen Region außer Acht lässt. Ebenso richtig ist
vielmehr die Beobachtung, dass das heutige Makedonien hinsichtlich der
Kulturszene einem Antiquitätenladen ähnelt, der mit ganz unterschiedlichen
Biografien und Schicksalen, einer Vielzahl von ethnischen, religiösen und
kulturellen Gegensätzen, Erinnerungen und Ängsten und überhaupt reichlich
Potenzial – sowohl erschöpft als auch nachwachsend – ausgestattet ist – … mit
all unseren verschleierten Identitäten.
II.
Makedonien kann man
als kulturelle Collage aus unterschiedlichen Elementen (christlich, islamisch,
jüdisch) bezeichnen, die sich selbst bespiegeln, gewissermaßen wie ein offenes
Buch, in dem eine Philosophie widersprüchlicher Einheiten tiefe Eindrücke
hinterlassen hat. Noch besser gesagt: Makedonien lässt sich als Mikro-Atlas von
Grenzen beschreiben, die zunächst getilgt und über die Zeit hinweg immer wieder
neu umschrieben wurden, eine Summe aus kollektiven und individuellen
Geschichten mit all ihren großen und kleinen Problemen. Demgemäß kann der
heutige Zustand des Landes wie folgt charakterisiert werden: unvollkommen und
unvollendet, jedoch einzigartig in Bezug auf seine ethnischen, politischen und
kulturellen Differenzierungen. Makedonien ist ein Balkanstaat, in dem Identität
und Anderssein auf eigenartige Weise in einer Symbiose koexistieren. Die geistigen
Elemente des ambivalenten und vielgestaltigen Kulturraums, den dieses kleine
Land bildet, hat 2004 die bulgarische Gelehrte Maria Todorova in dem Seminar
„Die symbolischen Geografien Europas“ herausgearbeitet und damit die These
bestätigt, dass die regionale Identität für ein Volk ebenso wichtig ist wie die
nationale Identität, dass also die Makrostruktur der Region oftmals über
vermeintlich enge räumliche Grenzen hinausweist.
Wenn man einmal die
zahlreichen historischen Zeitabschnitte betrachtet, die Einfluss auf den Balkan
genommen haben, kann man verstehen, warum diese Region zu einem Ort der
„lebendigen Interaktion“ wurde, an dem die Unterschiede in der geschichtlichen
Vergangenheit (hellenistisch, römisch, byzantinisch, osmanisch … kommunistisch,
sozialistisch, kapitalistisch …) vielleicht nicht immer respektiert wurden, an
dem jedoch das reiche kulturelle Erbe dieser vielfältigen Traditionen kontinuierlich
gehütet und aufrechterhalten worden ist. Dies führte, wenn man den gesamten
Großraum mit anderen europäischen Makroregionen vergleicht, zu durchaus
auffälligen Eigenarten und letztlich zu der Ansicht, das große Ganze beinhalte
auch einige kleine Teile, die sich nicht gänzlich einfügen. Ebenso verbreitet
ist auf dem Balkan das Gefühl, gegenüber anderen Teilen Europas aufgrund der
Heterogenität benachteiligt zu sein. Solche jahrhundertealten Stereotype
verringern ganz offensichtlich das Bewusstsein für die gemeinsamen Wurzeln der
europäischen Zivilisation. Obwohl der Balkan immer schon ein
Grundpfeiler war, für den die Logik des „dazwischenliegenden Momentes‘ galt,
ist er gleichzeitig Zentrum und Peripherie, ergon und parergon
aller kulturellen und spirituellen Postulate der europäischen Identität – eine
ganz offensichtlich marginalisierte und vergessene Tatsache!
Ich werde diese
Position noch näher erläutern, doch zunächst möchte ich darauf hinweisen, dass
trotz der Last des Stereotyps „Rückständigkeit“ die Wurzeln der Frustration auf
dem Balkan nicht ausschließlich in historischen Prozessen und
Migrationsbewegungen verortet werden können, auch nicht in der verspäteten
Urbanisierung und Industrialisierung; vielmehr sind sie das Resultat zweier
folgenreicher geistiger und kultureller Strömungen, die den Balkan nie
vollständig erreicht haben: Humanismus und Renaissance. Diese Tatsache mag
überraschend sein, lokalisieren doch einige Kunsthistoriker den Beginn der
Proto-Renaissance in zwei winzigen makedonischen Kirchen in Kurbinovo (1191) und
Nerezi (1164) bzw. den Beginn der Renaissance in der Kirche Maria Peribleptos
in Ohrid (1295), also fast zwei Jahrhunderte vor dem Rest Europas!
Im Allgemeinen wird
die Hauptursache dieser „Schwachstelle“ des Balkans vornehmlich in Verbindung
mit der osmanischen Herrschaft gebracht, die zeitweilig zu einer räumlichen
Ghettoisierung der Region führte. Slavko Janevski stellte diese historische
Tatsache in einem seiner Romane (also dem Literatur-Genre mit – wie man sagt –
der höchsten Ordnung an Plausibilität) vor. Die ersten Seiten von Die
Dickköpfigen (1970) bieten einen metaphorischen Schnappschuss sowohl des
europäischen als auch des globalen kulturellen Raums um das Jahr 1835 und
setzen faktisch eine verdichtete simultan ablaufende Projektion historischer
Gegebenheiten und Persönlichkeiten in Szene:
Karl Marx legt 1835
sein Abitur ab … Im gleichen Jahr… gründete Njegoš seine erste Druckerei in
Montenegro …, während James Gordon Amerika mit der Tageszeitung New York
Tribune überraschte …; zu jener Zeit, als sich Europa nicht darüber bewusst
war, dass sich irgendwo in Makedonien die Menschen unter dem Joch von
Pflugscharen und Pferdegespannen befanden, obwohl man wusste, dass bereits vor
sechs oder sieben Jahren der Amerikaner Joseph Henry leistungsstarke Elektromagneten
entwickelt hatte … Im gleichen Jahr veröffentlicht Balzac eine seiner 100
Arbeiten …, während irgendwo im makedonischen Florina drei Mädchen von den
Türken gewaltsam zum Islam konvertiert wurden, während ein viertes vergewaltigt
und mit aufgeschlitzter Kehle in einem Maisfeld abgelegt wurde … Gleichzeitig
erscheinen in europäischen Wohnhäusern die ersten Biedermeier-Möbel… Jahre
später werden diese bei den Nachkommen der Dorfbewohner von Kukulino begehrt
sein … Ebenso im Jahr 1835 setzen europäische Kolonisatoren ihr Vordringen in
Afrika und Asien fort, während Makedonien vor einem blutigen Stein schaudert.“
Diese anschauliche und zugleich schauerliche Darstellung – ein Panoptikum, wenn man die schockierenden Bedingungen eines fernen und doch sehr reellen Topochrons betrachtet – brachte mich zum Nachdenken darüber, ob es nicht eine einzige überzeugende und ganzheitliche Schilderung gibt, in der wenigstens einmal in der europäischen Geschichte der Balkan und Makedonien nicht als territoriale Teilregionen, als „Schattenreich“, als eine Zone des symbolisch Unbewussten behandelt werden, der „nichts vergisst und nichts lernt, weiter seine uralten Gefechte kämpft, während der Rest der Welt mit dem rasanten Prozess der Globalisierung beschäftigt ist“. Eine solche Darstellung, auch wenn sie fast schon zu spät kommen würde, wäre ein starkes Signal. Dennoch wollte ich vom Beginn dieses Essays an ein bedeutenderes Argument anbringen. Es geht mir darum, dass Makedonien als Wegscheide und Brücke zwischen Ost und West, zwischen Mystischem und Rationalem einen Palimpsest verschiedenartiger kultureller Schichten bildet, also ein Gebilde, das immer wieder neu beschrieben wurde, unter dem die alten Schichten jedoch noch immer hervorschimmern. Würden wir uns diesem Gebilde etwa in einer Haltung von ethnischem oder religiösem Fanatismus annähern, würden wir Verrat an der Ehrwürdigkeit dieses immer wieder beschriebenen Gebildes begehen. Die kaum zugänglichen und oft nur noch schwer lesbaren Inschriften, die in steinerne Überreste der hellenistischen Kunst eingraviert sind, müssen ebenso gesichert werden wie die fesselnden byzantinischen Fresken und die hohen islamischen Minarette, in denen sich geheimnisvolle Subkulturen aller verschwundenen Völker manifestieren, deren Heimat Makedonien einmal war. All diesen Spuren kommt eine eigene Würde zu, die es anzuerkennen gilt.
III.
Europa könnte also
vielleicht hier, in Makedonien, seine eigentliche Schnittstelle im Sinne eines
offenen Dialogs erkennen. Aus diesem Grunde möchte ich mich im Gegensatz zu den
Abhandlungen, denen zufolge die Kulturen des Balkans auf einer Logik der
scharfen Trennung zwischen Ost und West basieren, in Richtung des Konzepts
einer offenen Kultur bewegen. Dieses Konzept fügt sich nicht nur in die
Idee einer Welt kultureller Unterschiede ein, sondern es spricht auch die
Perspektiven der europäischen transnationalen Identität an. Eine solche
Position fordert auch die (Re)Integration der Balkanregion innerhalb der
politischen Grenzen Europas als Teil des demokratischen öffentlichen Raums, in
dem sich Kulturen fortwährend begegnen. Sie ist der Schlüssel zum Verständnis
des lebenswichtigsten aller derzeitigen politischen Projekte – die kulturelle
Identität Europas – als ein postnationales und universales Konzept für die
Zukunft.
Seit vielen Jahren
ist die kulturelle Identität Europas ein heißes Eisen innerhalb postmoderner
politischer Diskurse. Doch dieses übernationale, globale Projekt ist nicht so
sehr abhängig von der gemeinsamen Geschichte, dem gemeinsamen zivilisatorischen
Erbe oder vom kollektiven Willen der in dieser Region lebenden Völker, sondern
vielmehr von der Notwendigkeit eines Imaginariums, also eines geistigen
Rahmens, der das Gefühl von Größenwahn oder Provinzialismus aufheben könnte.
Dies gilt vor allem und umso mehr, da Europa nicht bloß eine geografische oder
ökonomische Realität meint, sondern ein kulturelles Projekt bildet, von dem
jeder gebildete Europäer unabhängig von der jeweiligen nationalen, sprachlichen
und religiösen Identität träumt. Dieses Projekt könnte Verwerfungen aus der
Vergangenheit überbrücken oder gegenwärtige politische und kulturelle
Unterschiede bewältigen, da es auf humanistischen Werten basiert, die das
Fundament der Europäischen Union ausmachen.
Diese Werte prägten
seit der mythischen Zeit die Geschichte des europäischen Kontinents
entsprechend der historischen Reise der Phönizier, die auf ihrer Suche nach Ländern
im Westen (Ereba, „wo die Sonne untergeht“) die Täler des Vardar und der
Donau hinaufzogen und somit von Ost nach West nicht nur das Alphabet, sondern
auch die Grundlagen von Religion und Zivilisation verbreiteten. Auf diese Weise
begann der Prozess der „Entdeckung“ der europäischen Geografie und mit ihm die
Geburt des Kontinents, der bisher „namenlos“ gewesen war und erst durch die
Menschen und deren Ideen besiedelt und zivilisiert wurde, die aus den
Küstenregionen des Nahen Ostens stammten. Obwohl der Begriff „Europenses“
bereits relativ früh (während des 8. Jahrhunderts) auftrat, hatte er lange Zeit
nur allegorische Bedeutung. Erst im 14. Jahrhundert wurde eine verkümmerte
Vision Europas im Sinne einer Völkergemeinschaft wiederbelebt, als es um ein
gemeinsames Ziel ging – die Verteidigung des Christentums. Leider trug die
politische und ideologische Rivalität zwischen Rom und Konstantinopel dazu bei,
dass mitten im Herzen Europas bereits eine Spaltung vorhanden war: einerseits
die westliche katholische Welt (mit ihrer „europäischen“ Denkweise),
andererseits die östliche, orthodoxe Welt (mit einer
byzantinisch-orientalischen Geisteshaltung dazu bestimmt, der Osten für den
Westen und der Westen für den Osten zu sein). So blieb ständig das „Andere“ als
Grundproblem Europas und besteht bis heute fort. Es ist so alt wie die
Geschichte Europas und muss deshalb ständig und stets aufs Neue umformuliert
werden …
Vielleicht besteht
im Moment kein Anlass zu Optimismus, dass diese Spaltung bald überwunden werden
könnte, aber man sollte sich doch auch in Erinnerung rufen, wie viel
Pessimismus es in der Welt von heute gibt. Gewiss wird uns das nicht daran
hindern, in dem ironischen und provokanten Titel einer Arbeit von Slavoj Žižek
ein wenig Ermunterung zu finden und neu zu formulieren, was zwar eine ziemliche
Trivialität, jedoch eine stets überzeugende Parabel sein mag: Liebe mehr, hasse
weniger!
Aus dem Englischen
übersetzt von Christof Dahm.
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